Chinas Problem mit der Jugendarbeitslosigkeit

Dass die Jugendarbeitslosigkeit im Verhältnis zur Gesamtarbeitslosigkeit eines Landes höher ist, ist so weit nichts Ungewöhnliches. China hat aber mit einer unverhältnismäßig hohen Arbeitslosigkeit bei den 16- bis 24-Jährigen zu kämpfen. Um dieses Phänomen zu ergründen, muss man Chinas Arbeitsmarkt genauer unter die Lupe nehmen. Lesen Sie mehr darüber in diesem Auszug des BTV Anlagekompass zum Thema Konjunktur.

Ein Geschäftsmann steht vor einer chinesischen Flagge

Eine hohe Jugendarbeitslosigkeit ist nichts Ungewöhnliches

Chinas Jugendarbeitslosigkeit (im Alter von 16 bis 24 Jahren) stieg im Mai auf ein Rekordhoch von 20,8 %. Dass die Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich zur Gesamtarbeitslosigkeit höher ist, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches (siehe Tabelle). In den USA beispielsweise betrug die durchschnittliche Gesamtarbeitslosigkeit von 2000 bis 2023 5,8 %, während die Jugendarbeitslosigkeit bei 12,2 % lag. Ein Faktor von 2 gilt hierbei als Richtwert, und auch in China betrug er im Schnitt der letzten fünf Jahre 2,7 – im Mai allerdings lag der Faktor bei fast 4 (20,4 % vs. 5,2 %). Dass in Rezessionen die Jugendarbeitslosigkeit stärker steigt als die Gesamtrate, ist ebenso üblich. Beispielsweise erreichte sie in Spanien in den vergangenen 23 Jahren ein Hoch von 56,9 %, in Griechenland sogar 62,1 %. Doch mit Wirtschaftsschwäche allein ist die aktuelle Lage von Chinas Arbeitsmarkt nicht erklärbar. Vielmehr sind strukturelle Probleme und Veränderungen der Grund dafür.

 

Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich zur allgemeinen Arbeitslosenquote

Quelle: Bloomberg; Stand 17.07.2023.

Strukturelle Veränderungen am Arbeitsmarkt

Das Angebot an Arbeitskräften hat sich in den vergangenen 20 Jahren drastisch verändert. Während es zu Beginn der 2000er jedes Jahr ca. 2 Mio. Hochschulabsolvent*innen waren, die neu in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, sind es heute über 11 Mio. jährlich. Dem gegenüber steht aber eine rückläufige Entwicklung bei sogenannten Wanderarbeiter*innen, die die eigene Provinz (meist ländliche Gebiete) verlassen, um in Städten Arbeit zu finden. Die Zuwächse dieser Arbeiterschicht haben sich im gleichen Zeitraum von 12,5 Mio. jährlich auf 1,6 Mio. reduziert. Die Pandemie hat diesen Effekt in den vergangenen drei Jahren massiv verstärkt, da sich angesichts von Reisebeschränkungen bis hin zu Verboten viele darauf konzentriert haben, in der Heimat eine neue Arbeitsstelle zu finden – und sie diese bis heute behalten haben (siehe Grafik).

 

Anzahl chinesischer Wanderarbeiter*innen sinkt drastisch

Quelle: Bloomberg; Stand 17.07.2023.

Sektorale Rotation nach der Pandemie

Neben den Entwicklungen auf der Angebotsseite war auch die Nachfrageseite an Chinas Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren Umbrüchen unterworfen. Vor Ausbruch der Pandemie wurden im Dienstleistungssektor neue Stellen geschaffen, während sie im Industriesektor gestrichen wurden. Corona und die strikten Beschränkungen, die den Dienstleistungssektor ungleich schwerer getroffen haben, haben allerdings dazu geführt, dass sowohl in diesem Sektor als auch im ganzen Land die Anzahl der Stellen gesunken ist – zum ersten Mal in der Geschichte. Da die Pandemie und die damit einhergehenden Beschränkungen aber vorbei sind, dürfte sich dieser Effekt in naher Zukunft auflösen bzw. sogar wieder umkehren. Ein anderer Effekt wird seinen negativen Einfluss aber noch länger ausüben.

 

Staatliche Eingriffe führen zu Umbrüchen am Arbeitsmarkt

Chinas Regierung übte in der Vergangenheit massive staatliche Eingriffe in Sektoren wie Bildung, Finanzen oder Immobilien aus. Beispielsweise wurde es Bildungseinrichtungen in China verboten, Profit zu erwirtschaften – was viele Stellen für Uniabsolvent*innen obsolet gemacht hat. Ähnliche Eingriffe erfolgten im Immobiliensektor, wo staatliche Regulierungen die hohe Verschuldung eindämmen sollten, als Nebeneffekt aber weniger Aktivität und damit auch weniger neue Stellen zur Folge hatten. Profitiert sowohl vom Ende der Pandemie als auch von staatlicher Unterstützung in Infrastruktur und die grüne Wende haben hingegen großteils Niedriglohnjobs. Genau dort fehlen aber nun die Wanderarbeiter*- innen aus anderen Provinzen, da Uniabsolvent*innen für diese Art von Jobs überqualifiziert und damit mehrheitlich nicht bereit sind, diese auszuüben.

Wanderarbeiter*innen, die keine mehr sind

Damit entstand ein Problem, das eigentlich ein Widerspruch in sich ist: ein enger Arbeitsmarkt trotz einer sehr hohen Jugendarbeitslosigkeit. Aber müsste die gesamte Arbeitslosenrate dann nicht ebenfalls deutlich angestiegen sein? Eine Erklärung, warum das nicht der Fall war, liefert die nachfolgende Grafik. Die Beschäftigung ist lediglich in den Städten gesunken, am Land aber wieder angestiegen. Eine sinkende Arbeitsbeteiligung ist damit nicht das Problem, sondern die höhere Beschäftigung am Land und damit ein Wechsel vieler Arbeiter*innen vom Dienstleistungsin den Agrarsektor. Dieser Effekt wurde durch Corona deutlich verstärkt, wird sich vermutlich aber nur sehr langsam wieder auflösen. Die gesamte Arbeitslosenquote zeigt damit das Problem von Chinas Arbeitsmarkt nicht, diese ist die vergangenen Jahre über relativ stabil geblieben.

 

Wanderarbeiter*innen bleiben zu Hause − Wechsel vom Dienstleistungs- in den Agrarsektor

Quelle: Bloomberg; Stand 17.07.2023.

Chinas Unterbeschäftigung wächst bereits seit Jahren

Eine Unterbeschäftigung lag in China allerdings bereits vor Ausbruch des Coronavirus vor. Teilzeitkräfte werden in der Arbeitslosenstatistik als Vollzeitkräfte geführt und verzerren damit das Ergebnis. Ebenso gab es bereits vor der Pandemie Deglobalisierungstendenzen, die die Produktion von arbeitskräfteintensiven Sektoren wie Textilien, Schuhe oder Spielzeug betroffen haben. Der Handelsstreit mit den USA und die damit einhergehenden höheren Produktkosten infolge von Zöllen haben das Problem auf Elektronikprodukte und Smartphones ausgeweitet, wo die Produktion vermehrt weg aus China und zurück in den heimischen Markt verlagert wurde. Die Lieferkettenengpässe, die durch die Pandemie, aber auch durch den Krieg in der Ukraine entstanden, haben den Trend hin zur heimischen Produktion noch verstärkt. Außerdem reduzieren Effizienzgewinne durch den technologischen Fortschritt die Nachfrage nach Arbeitskräften ebenfalls bereits seit Jahren.

Verschiedene Lösungsmöglichkeiten

Chinas demografische Entwicklung, die oft als Problem betrachtet wird, kann aber genau die Probleme am Arbeitsmarkt mittel-bis langfristig lösen. Im Jahr 2022 ist Chinas gesamte Bevölkerung nämlich erstmals geschrumpft. Die zunehmende Überalterung führt zusätzlich dazu, dass der Anteil der arbeitenden Bevölkerung, der seinen Höhepunkt bereits im Jahr 2014 überschritten hat, noch stärker sinkt. Die sogenannte „Babyboomer“-Generation, geboren zwischen 1962 und 1970, wird den Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren verlassen, womit viele Stellen für die nächste Generation frei werden. Dennoch liegt massiver Druck auf der Regierung, neue Jobs speziell für junge Menschen zu schaffen. Erste Tendenzen in diese Richtung sind im öffentlichen Sektor bereits erkennbar, zusätzlich müssen aber Firmen- und Start-up-Gründungen speziell für Hochschulabsolvent*innen attraktiver gemacht werden. Zudem wäre es wirkungsvoll, das Vertrauen von westlichen privaten Unternehmen und Investoren in den chinesischen Markt wieder zu stärken, das aufgrund von Unsicherheiten infolge von unerwarteten und drastischen staatlichen Regulierungen gelitten hat. Immerhin macht der Privatsektor knapp 80 % der Beschäftigung in China aus. Damit sehen wir in der BTV hier das größte Potenzial für Chinas Arbeitsmarkt.

 

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