Wie verändert hohe Inflation das Leben der Menschen?

In Österreich, Deutschland und Italien stöhnen viele Menschen unter den derzeitigen Preissteigerungen. Aber während die Inflation zuletzt zwischen 9 und 12 % lag, stiegen in Argentinien oder in der Türkei die Preise im letzten Jahr um nahezu 100 %. Wie kommen die Bewohner*innen dieser beiden Länder damit zurecht? Wir haben für Sie zwei Erfahrungsberichte eingeholt.

Unsere Interviewpartner*innen: Fernando Ruiz Peyré stammt aus Argentinien, er lebt und arbeitet in Innsbruck. Argentinien bereist er regelmäßig. Auch Rabiya Baltaci‘s Verwandte in der Türkei erlebten in den letzten Jahren eine galoppierende Inflation. Die beiden haben uns aus ihrer Sicht erzählt, wie sie, ihre Familie und Freunde die herrschenden Teuerungsraten erleben.

Wie hoch sind denn die derzeitigen Inflationsraten in Argentinien oder der Türkei und wie wirken sie sich aus?

Fernando: Die Argentinier*innen sind es gewohnt, mit Inflation zu leben. Für sie sind die aktuell 98 % nur eine Steigerung dessen, was sie ohnehin kennen. Da die Löhne – je nach Sektor – eher schleppend angepasst werden, hat das natürlich unterschiedliche Folgen für die Familien.

 

Rabiya: Nach 15 Jahren moderater Inflation ist die Inflationsrate in der Türkei seit 2021 auf hohe zweistellige Prozentwerte gestiegen. Viele Familien schnallen den Gürtel enger, sie sparen, wo immer es geht. Vor allem der Preisanstieg bei Lebensmitteln schmerzt, aber auch der Gaspreis führt zu Temperatursenkungen in den Wohnungen.

Wie reagieren die Menschen? Lassen sich Anzeichen dafür erkennen, dass die Menschen das Vertrauen in ihre Landeswährung verlieren?

Fernando: Fast alle Argentinier*innen verdienen natürlich ihr Gehalt in Pesos. Man kann diese nicht so einfach umtauschen, der Umtausch in US-Dollar oder Euro ist stark eingeschränkt, es braucht dafür einen triftigen Grund. Wenn Argentinier*innen in eine stabile Fremdwährung wechseln wollen, geht das nur auf dem Schwarzmarkt. Und der dort angebotene Wechselkurs für einen „dólar blue“ bzw. „Euro blue“ ist deutlich teurer als der offizielle Wechselkurs der argentinischen Zentralbank.

 

Rabiya: Viele junge Türk*innen kaufen verstärkt in Raten. Aber nicht nur Unterhaltungsgeräte und Möbel, sondern auch Markenkleidung und -schuhe, also z. B. eine Winterjacke auf sechs Monatsraten. Dass der Ratenkauf teurer kommt, wird achselzuckend zur Kenntnis genommen. Die Menschen erhalten ihr Einkommen in Lira. Wenn sie einen Teil des Einkommens nicht brauchen, dann wechseln sie es in Fremdwährung (Euro, US-Dollar). Und traditionell investieren Türk*innen viel in Gold. Bei Hochzeiten ist Gold ein zentrales Geschenk und dient dem jungen Paar als Startkapital.

Gibt es Güter, deren Preise besonders stark gestiegen sind?

Fernando: In Argentinien geht die Schere zwischen vom Staat subventionierten Gütern wie Strom, dem öffentlichen Verkehr oder Benzin und importierten Produkten auseinander. Insbesondere die Preise für Textilien und Medikamente sind in letzter Zeit exorbitant gestiegen. Hingegen ist die Fahrt durch den wichtigsten Straßentunnel nach Chile spottbillig: Er kostet nach wie vor nur 10 Eurocent.

 

Rabiya: Die Preissteigerungen betreffen in der Türkei alle Bereiche, von Lebensmittel, Benzin, Strom, Mieten und Schulgebühren. Aufsehen hat erregt, als der Preis des türkischen Sesamringes „Simit“ innerhalb kurzer Zeit von einer Lira auf fünf anstieg. Das sind zwar nur 25 Eurocent, aber das Einkommen vieler Türk*innen ist recht bescheiden. Die Preissteigerung bei diesem beliebten Gebäck hatte daher besonderen Symbolwert.

Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch etwas ansparen?

Fernando: Viele Menschen in Argentinien haben nicht viel, sie kommen gerade so über die Runden. Diejenigen meiner Bekannten, die sparen können und wollen, kaufen gerne Devisen. Früher war es möglich, bis zu 200 US-Dollar zum offiziellen Wechselkurs zu wechseln und diese zu „sparen“. Doch das hat die Regierung inzwischen abgeschafft. Wirklich Geld anzusparen ist daher schwierig. Viele meiner Bekannten versuchen daher eher, Geld bei Gütern des täglichen Bedarfs zu sparen und kaufen zum Beispiel haltbare Produkte auf Vorrat. Ein Freund von mir hat beispielsweise während der Schwangerschaft seiner Partnerin gleich einen ganzen Jahresvorrat an Windeln erstanden. Generell gilt, wenn absehbar ist, dass die Inflation einen weiteren Sprung macht, wird im großen Umfang alles gekauft, was länger hält.

 

Rabiya: Türk*innen, die sparen können, tauschen ihre Lira in Fremdwährung oder in Gold. Das ist im Gegensatz zu Argentinien ohne Einschränkung möglich. Es befinden sich also relativ hohe Vermögenswerte in den Wohnungen. Wenn jetzt nach dem aktuellen Erdbeben der Schutt weggeräumt wird, tauchen immer wieder Geldbündel und Gold auf. Fotos davon kursieren in den sozialen Netzwerken.

Welche Auswirkungen hat die Hyperinflation in der Türkei und Argentinien auf die Unternehmer*innen?

Fernando: Ein Verwandter von mit verkauft und installiert in Argentinien Sicherheitsanlagen. Er erzählt mir immer wieder, wie kniffelig es ist, Verträge abzuschließen. Wenn sich Baufortschritt oder Lieferungen verzögern, dann drohen herbe Verluste, wenn Preissteigerungen vertraglich nicht einbezogen sind. Darüber hinaus erfolgt die Anpassung der Löhne für die Unternehmen oft überraschend, was die Planungssicherheit zusätzlich erschwert. Und Großunternehmen stehen ihrerseits im Verdacht, dass sie mit dem Hinweis auf die Abwertung des Pesos ihre Verkaufspreise übermäßig erhöhen. Zwar würden Unternehmen und Privatpersonen, die Kredite aufnehmen, von steigender Inflation tendenziell profitieren, doch funktionieren Kreditmärkte aufgrund der monetären Unsicherheit von Haus aus schlecht.

 

Rabiya: Ein Bekannter baut Gewächshäuser, wobei wichtige Teile importiert werden müssen. Bald nach dem Anziehen der Inflation ist er dazu übergegangen, nur mehr in US-Dollar anzubieten. Es war einfach zu riskant, sich auf Lira als Vertragswährung einzulassen. Die Kunden akzeptieren das notgedrungen und überwälzen ihrerseits die gestiegenen Investitionskosten auf die Gemüsepreise.

Auch wenn uns einige Aspekte in Mitteleuropa bekannt vorkommen, merken wir erst aus den Erfahrungsberichten, wie sehr eine hohe Inflation das Leben und Wirtschaften erschwert. Wir danken unseren Interviewpartner*innen, Frau Baltaci und Herr Ruiz Peyré, für diese interessanten Einblicke.