Behinderung? Disability? Beeinträchtigung?

Welcher ist nun der „richtige“ Begriff? Unsicherheiten geben wir keine Chance: Wir in der BTV sprechen von „Behinderungen haben“. Dass es Behinderungen gibt, ist normal. Es ist normal verschieden zu sein. Um optimal mit dem Thema „Menschen mit Behinderungen“ umgehen zu lernen, haben wir uns Expertise von außen geholt. Anlässlich des Vielfalts-Monats Mai steht uns Wolfgang Kowatsch, Co-Gründer und Managing Partner von myAbility Rede und Antwort.

Herr Kowatsch, wie würden Sie myAbility einer Person vorstellen, die das Unternehmen noch nicht kennt?

Wir sind ein etabliertes Social Business, spezialisiert auf die Themen Behinderung, Inklusion und Barrierefreiheit. Wir unterstützen Unternehmen – wie die BTV –  dabei, eine inklusive Unternehmenskultur zu schaffen. Sei es durch Strategieentwicklung, Sensibilisierungstrainings für Führungskräfte und Mitarbeitende, Verbesserung der Barrierefreiheit oder durch inklusives Recruiting mit der größten Online-Jobplattform für Menschen mit Behinderungen myAbility.jobs. Unsere Vision ist es, gemeinsam mit der Wirtschaft eine chancengerechte und barrierefreie Gesellschaft zu gestalten.

Was zeichnet myAbility aus?

Wir verbinden wirtschaftliches Verständnis mit dem Thema Inklusion und Barrierefreiheit. Unsere Herangehensweise ist konstruktiv und auf Augenhöhe. Wir holen Unternehmen dort ab, wo sie gerade stehen und entwickeln maßgeschneiderte Lösungen.
Durch diesen wirtschaftszentrierten Zugang schaffen wir einen Mehrwert für Unternehmen und einen großen Social Impact, insbesondere für Menschen mit Behinderungen. Ein Erfolgsfaktor ist dabei definitiv, dass wir selbst in einem inklusiven Team arbeiten, denn etwa 40 % der Expert*innen von myAbility leben selbst mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen. Das ist ein Schlüssel zu unserem Erfolg, denn es ermöglicht uns, sowohl Unternehmen als auch Menschen mit Behinderungen auf authentische und effektive Weise zu unterstützen und viele unterschiedliche Perspektiven und Lösungsansätze einzubringen.

Was ist die Geschichte hinter myAbility und wie sind Sie persönlich zum Thema Inklusion gekommen?

Meine Geschichte lässt sich auf eine persönliche Begegnung zurückzuführen. 2009 war ich Geschäftsleiter einer großen Mainstream-Online-Job-Börse und erhielt einen Anruf von einem Kunden, der mir berichtete, dass er sehr glücklich ist jemanden mit einer Behinderung durch unsere Jobbörse eingestellt zu haben. Das war Gregor Demblin, der seit einem Unfall auf seiner Maturareise selbst eine Querschnittslähmung hat. Wir sprachen über die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt und erkannten den Handlungsbedarf. Daraus entstand mit Unterstützung des Sozialministeriums die erste Online-Job-Börse für Menschen mit Behinderungen. Nach einiger Zeit erkannten wir, dass Unternehmen noch umfassendere Unterstützung und Hilfestellung beim Thema Inklusion und Barrierefreiheit benötigen, die über das Recruiting hinaus gehen.

2014 gründeten wir deshalb gemeinsam die Unternehmensberatung myAbility und sind mittlerweile führender privatwirtschaftlicher Anbieter im deutschsprachigen Raum.

 

Ist die Nachfrage nach Fachexpertisen und Coaching zur Inklusion während der letzten Jahre gestiegen?

Definitiv. Das Thema Inklusion ist kein „Nice-to-have“ mehr, sondern ein „Must-have“. Unternehmen erkennen zunehmend die Vorteile von diversen Teams und verstehen, dass man die Zielgruppe in dieses Entscheidungsprozesse involvieren muss, um kreative und zielgerichtete Lösungen zu schaffen. Darüber hinaus dürfen auch Kund*innen mit Behinderungen und die Barrierefreiheit von Produkten, Services, Dienstleistungen und Online-Angeboten nicht vergessen werden!
Durch das neue ESG-Reporting – die Verpflichtung für Unternehmen ihr nachhaltiges Wirken zu berichten – erkennen wir eine starke Nachfrage bei der Strategieentwicklung und vor allem auch bei der Messung des generierten Social Impacts. Es gibt allerdings noch viele Barrieren zu beseitigen – von physischen bis zu jenen in den Köpfen von Recruiter*innen und Führungskräften.

Inklusive Sprache ist ein Werkzeug, um Vorstellungen zu ändern.

„Behinderung“, darf man das sagen?

Ja! Behinderung ist eine neutrale Bezeichnung, die von einem Großteil der Menschen mit Behinderungen selbst verwendet wird. Es ist wichtig, keine Angst vor diesem Begriff zu haben und auch keine alternativen Bezeichnungen wie „Handicap“ oder „besondere Bedürfnisse“ zu verwenden, da diese vermeintlich „schöneren Worte“ das Stigma rund um das Wort „Behinderung“ eher reproduzieren als abschwächen. Das Problem ist nicht das Wort „Behinderung“ an sich, sondern die gesellschaftliche Vorstellung und Konnotation, die oft damit einhergeht. Inklusive Sprache ist ein Werkzeug, das dabei helfen kann, diese Vorstellungen zu ändern und eine Realität zu schaffen, in der Menschen mit Behinderungen als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft gesehen werden.

Worauf sollte man noch achten, wenn es um „Inklusive Sprache“ und Storytelling geht?

Bei der Verwendung des Wortes Behinderung ist es wichtig, die Person nicht auf die Behinderung zu reduzieren. Daher sprechen wir von „Menschen mit Behinderungen“ und nicht von „Behinderten“. Ob jemand sich als „behindert“ bezeichnet oder sagt, er/sie „hat eine Behinderung“, ist eine individuelle Entscheidung und hängt oft davon ab, wie identitätsstiftend die Behinderung für die Person ist.
Sprache ist dynamisch und entwickelt sich ständig weiter. Sie drückt aktuelle gesellschaftliche Wertehaltungen aus und sollte daher regelmäßig reflektiert und angepasst werden. Ein Schlüssel dazu ist, miteinander zu sprechen und einander zuzuhören. Vor allem ist es entscheidend, Menschen mit Behinderungen selbst sprechen zu lassen und ihre Expertise einzuholen und zu respektieren.

Verurteilen Sie Menschen nicht, bevor Sie sie kennengelernt haben!

Welche Tabuthemen und Ängste gibt es beim Umgang mit Menschen mit Behinderungen?

Oft fehlen Berührungspunkte. Wie in vielen Lebensbereichen lernen wir aus Begegnungen und dem offenen Austausch. Obwohl laut Studien 30 % der Bevölkerung im nahen Umfeld mit dem Thema Behinderung konfrontiert sind, gibt es nach wie vor Ängste, dieses Thema im beruflichen Kontext offen anzusprechen. Diesen „Save-Space“ schaffen wir in unseren Sensibilisierungs-Trainings, damit Personen in einem offenen Austausch Vorurteile abbauen können. Die Tatsache, dass über 70 % der Behinderungen unsichtbar sind, eröffnet natürlich die Möglichkeit, es zu „übersehen“ bzw. gut zu verbergen, steht aber diesem Lerneffekt entgegen. Unternehmen sollten daher an einer offenen Unternehmenskultur arbeiten, um auch Ängste bei Menschen mit Behinderungen abzubauen. Niemand sollte das Gefühl haben, dass eine Offenlegung einer Behinderung zum eigenen Nachteil ist. Das erfordert kontinuierliche Arbeit an einer offeneren und inklusiven Unternehmenskultur, die sich jedoch definitiv lohnt!

 

Das Thema Inklusion ist kein „Nice-to-have“ mehr, sondern ein „Must-have“.

Welche Dos und Don’ts möchten Sie uns als Experte mit auf den Weg geben?

Stellen Sie viele Fragen und hören Sie aufmerksam zu.
Werden Sie sich Ihrer eigenen Vorurteile bewusst und beurteilen Sie Menschen nicht, bevor Sie sie kennen gelernt haben. Und persönlich empfehle ich noch, sich mit dem Thema „Inklusive Sprache“ und „Inklusives Storytelling“ zu beschäftigen. Auf www.myability.org/wie/inklusive-kommunikation finden Sie wertvolle Tipps mit Do’s und Don’ts und weiterführende Infos.

Selbst wenn man bemüht ist, welche Herausforderungen bleiben dennoch?

Für mich sind es drei:

Erstens: Der Start in das Thema kann in manchen Bereichen einen zusätzlichen Aufwand darstellen, den einige vielleicht nicht auf sich nehmen wollen. Dieser vermeintliche Aufwand zahlt sich jedoch mittel- bis langfristig definitiv aus!
Zweitens: Lassen Sie sich nicht von weniger sensibilisierten oder interessierten Kolleg*innen vom Weg abbringen lassen, sondern suchen Sie stattdessen Verbündete – von denen es mehr gibt, als man ursprünglich glaubt.
Drittens: Vermeiden Sie Verallgemeinerungen. Unabhängig davon, ob positive oder negative Erfahrungen im Kontext von Inklusion von Menschen mit Behinderungen gemacht wurden oder werden. Es handelt es sich immer um individuelle Personen, von denen man keine Rückschlüsse auf andere schließen sollte. Der Mensch steht immer im Vordergrund und wenn wir Barrieren Stück für Stück abbauen, dann werden Sie erkennen, dass Behinderung nur ein Merkmal von vielen ist.

 

Vielen Dank für das Gespräch!